Frauen in MINT-Berufen
Berufs- und Studienorientierung

Nicole Rühmann

Frau Rühmann, Sie haben Chemietechnik studiert und einen Master in Management gemacht. Welchen Beruf üben Sie heute aus?

Im Rahmen meiner letzten Tätigkeit habe ich bis 2022 als Projektingenieurin für Änderungen in Produktionsanlagen in einer internationalen, industriellen Produktionsstätte für Lebensmittelöle und Biodiesel in Hamburg gearbeitet. Im Augenblick mache ich seit 2022 nach 30 Jahren in dem Beruf aus persönlichen Gründen eine Berufspause.


Können Sie uns einen typischen Arbeitstag einer Chemieingenieurin mit charakteristischen Aufgaben vorstellen?

Mein Berufsalltag setzt sich aus Büroarbeit am Computer, Besuchen der Produktionsanlagen und Dienstreisen zusammen. Mein Tagesablauf umfasst folgende Arbeitsbereiche:

  • Unterstützung bei der Identifizierung von Projektideen
  • Entscheidung über den Umfang und die technische und finanzielle Machbarkeit der Projekte
  • Planung des technischen Umfanges, Planung und Durchführung der Installation der Projekte
  • Inbetriebnahmen und Auswertungen der Effektivität und Erreichen des Projektzieles
  • Mitarbeit an Neubauprojekten oder Optimierung von bestehenden Produktionsanlagen
  • Vertragsgestaltungen für Lieferanten und Serviceverträge
  • Berücksichtigung relevanter und strikter Sicherheitsvorgaben
  • Durchführung und Teilnahme an vielen internen, aber auch externen Schulungen und Informationen über Richtlinien, Regelwerke, Systeme, meistens online


Zurück zum Beginn Ihrer Karriere. Wie sind Sie auf den Studiengang Chemietechnik gekommen? Gab es signifikante Vorbilder, welche Sie in dieser Entscheidung beeinflusst haben?

Ich hatte keine Vorbilder. Die Entscheidungsfindung fand Ende der 1980iger Jahre nach einem Berufsorientierungsgespräch beim Arbeitsamt über mögliche Berufspfade statt, das durch die Schule organisiert wurde. Es gab dort dann auch ein kleines Büchlein über Berufsmöglichkeiten. Meine Fragestellungen waren: Was könnte mir gefallen, was ist relevant, anwendungsbezogen und hat nach einem fundierten Studium gute Aussichten auf eine gute berufliche Laufbahn?
Dabei kristallisierte sich eine naturwissenschaftliche Richtung als Berufspfad heraus, da sehr ansprechende, anwendungsbezogene Berufsfelder aufgezeichnet wurden. Zu dem Zeitpunkt fingen auch umweltbezogene Fragestellungen in alltäglichen Diskussionen an, an Bedeutung zu gelangen.

Haben Sie sich in der Kindheit schon für MINT-Themen interessiert und mit einem Chemiebaukasten herumexperimentiert? Wann haben Sie Ihr Interesse für diese Themen entdeckt?

MINT-Themen waren immer meine Favoriten und haben mich fasziniert. Im Gegensatz dazu habe ich Fächer wie Deutsch, Kunst und Geschichte nicht gemocht. Fragen dieser Art wurden mir übrigens immer in Bewerbungsgesprächen für eine Tätigkeit als Chemieingenieurin gestellt.


Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass so wenige Mädchen sich für den MINT-Weg entscheiden?

Ich finde diese Frage schwer zu beantworten, da mir persönlich MINT-Fächer immer leichter fielen, ich sie viel interessanter fand und sie mir viel mehr Spaß gemacht haben. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass die Zurückhaltung von Mädchen und jungen Frauen nicht an traditionellen Rollenbildern und stereotypen Vorurteilen liegt. Mädchen und junge Frauen können auf jeden Fall das Wissen und die Fähigkeiten entwickeln, ohne Zweifel.


Was kann aus Ihrer Sicht getan werden, um mehr Mädchen dazu zu bewegen, sich für MINT-Fächer und speziell für das Fach Chemie zu interessieren?

Eine Möglichkeit wäre, Informationen und weibliche Vorbilder von MINT-Studiengängen, Firmen oder Industrie- und Forschungsverbänden und anwendungsbezogene Beispiele in die Schulen zu bringen. Weiterhin wäre es gut, einen Weg zu finden, um die Begeisterung für junge Frauen für MINT-Fächer vermehrt zu wecken und lebensnahe, relevante Themen für junge Frauen zu finden. Außerdem können spannende oder sogar coole MINT-Berufs- und Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die Relevanz für Mädchen und junge Frauen haben. Eine weitere Möglichkeit könnte darin bestehen, potentielle Vorurteile und Blockaden abzubauen.


Welche Erfahrungen und Herausforderungen haben Sie im Studium besonders beeinflusst?

Ich begann mein Studium der Biotechnologie/Chemieingenieurtechnik 1988, und es war eine tolle Erfahrung. Die Teilnehmer setzten sich aus 50 % jungen Frauen und 50 % jungen Männern vom Anfang bis zum Ende zusammen. Junge Frauen und junge Männer stellten sich in gleicher Weise den Herausforderungen und machten ihre Abschlüsse mit gleich guten Ergebnissen. Wir hatten das Gefühl, dass wir eine sehr gute Grundlage mit auf den Weg bekommen hatten, und dass wir viele Möglichkeiten für unsere weitere Zukunft hatten.
Meine ursprüngliche Idee war, Biotechnologie-Umwelttechnik zu studieren. Nach dem Vorstudium fiel dann jedoch die Entscheidung für die Vertiefung im Hauptstudium für den Fachbereich Chemieingenieurwesen.

Wie ging es nach Ihrer Unizeit weiter? Wie sind Sie in Ihre jetzige Position gekommen?

1993 habe ich meine erste Arbeitsstelle bei einem Ingenieurbüro begonnen. Dort habe ich in einem Team gearbeitet, das eine Gasanlage für Flüssiggase auf einem ozeantauglichen Gastanker geplant hat. Für die meiste Zeit meines Berufslebens habe ich in der technischen Planung von Chemieanlagen, entweder auf der Seite eines Ingenieurbüros oder für eine Betreibergesellschaft von Chemieanlagen in Deutschland und im internationalen Umfeld gearbeitet.
In die Position wächst man mit der Zeit hinein, sammelt Fach- und Branchenkenntnisse und Erfahrung mit unterschiedlichen Systemen und spezialisierten Programmen. Eine breite Berufserfahrung wird sehr geschätzt.
Zwischendurch habe ich einen kleinen Abstecher in die Welt der Begleitung von Inspektionen in der deutschen chemischen Industrie im Rahmen des internationalen Chemiewaffenübereinkommens gemacht. Dabei ging es um die fachliche Begleitung von internationalen Inspektionsteams im Namen des Wirtschaftsministeriums der Bundesrepublik Deutschland.

Der Beruf, den Sie ausüben, ist sehr vielfältig und erstreckt sich über ein breites Spektrum. Hierbei sind bestimmt besondere persönliche Eigenschaften von Vorteil. Können Sie uns ein paar Beispiele nennen, welche bei Ihrer Arbeit von großem Nutzen sind?

Eine Seite der wichtigen persönlichen Eigenschaften sind beispielsweise ziel- und lösungsorientierte Arbeitsweisen, Durchhaltevermögen, Energie, proaktive Vorgehensweisen und verantwortungsvolles Handeln.
Darüber hinaus sind weitere Eigenschaften und Verhaltensweisen von großer Bedeutung in Organisationen, die zunehmend globaler und in vernetzten Strukturen agieren:

  • Offenheit, Neugier, Teamfähigkeit, Zuhören, Informationen sammeln, Empathie, Flexibilität, Höflichkeit, Pflegen von Kontakten, Fairness, Offenheit für andere Meinungen und Herangehensweisen, Zusammenhänge und Restriktionen.
  • Auch die Fähigkeit, andere Personen mit sehr unterschiedlichen Charakteren, auf unterschiedlichen Ebenen und aus unterschiedlichen Kulturkreisen für die eigenen Ideen, Ziele, Aufgabenstellungen „mitzunehmen“ ist von großer Bedeutung. Und dann ist es wichtig, diese Fähigkeit je nach Situation in Durchsetzungsvermögen umzuwandeln.
  • Akzeptanz, wenn die eigenen Ideen, die eigene Arbeit „für den Papierkorb war“ oder nicht den Durchbruch schafft. Es ist gut, sich vor Enttäuschungen zu schützen, nicht entmutigen zu lassen, auch wenn Entscheidungen vielleicht nicht nachvollziehbar sind, oder Entscheidungen in ganz anderen Bereichen der Organisation gefällt werden
  • Geduld für Änderungen in der Organisation
  • Erfolge feiern
  • Eine gute Balance schaffen zwischen der wissens- und ergebnisorientierten Vorgehensweise und den persönlichen Eigenschaften, die zu den Soft Skills gehören


Welche verschiedenen Wege kann man mit dem Studium der Chemietechnik einschlagen?

Die Aufgabenfelder können sehr vielfältig sein.

  • In Chemieunternehmen aller Art in ganz unterschiedlichen Bereichen und Funktionen mit Überlappungen zu anderen Bereichen wie z.B. Biotechnologie oder Medizintechnik (z.B. das schnelle Errichten von Produktionsanlagen für Corona-Impfstoffe). Aber auch in der Mitgestaltung der Energiewende und der Findung, Entwicklung und Implementierung von nachhaltigeren Energieressourcen und deren Anwendungen wie z.B. Wasserstoff-technologien, Lagerung von flüssigem Kohlendioxid, net zero und Lösungsansätzen zum Klimawandel. Mit diesem beruflichen Hintergrund kann man im Herz der Veränderungen von umwelttechnischen Fragestellungen, die die Welt bewegen, mitarbeiten.
  • In Laboren
  • Überwachungsaufgaben im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben in Ämtern, bis hin zu Aufgaben mit politisch-rechtlicher Ausrichtung (z.B. Begleitung des internationalen UN-nahen Chemiewaffenübereinkommens) auf nationaler und internationaler Ebene. Fachliche Beratung in der politisch-rechtlichen Gesetzesentwicklung
  • In einigen Bereichen in der Automobilindustrie
  • Umwelttechnik und Umweltverbänden
  • Arbeit in relevanten Industrieverbänden, Universitäten und Forschungseinrichtungen


Wie kamen Sie dazu, zusätzlich zu diesem Studium auch einen Master in Management zu machen?

Ich hatte eine große Neugierde und Interesse, die eigene Sichtweise zu erweitern und die technischen Zusammenhänge in breitere, weitere Zusammenhänge einzubetten. Damit habe ich mein Wissen auf eine breitere Basis gestellt, in der sich Unternehmen bewegen und agieren.


Sie sind in Ihrem Leben schon viel auf der Welt umhergekommen und haben auch mit internationalen Konzernen zu tun gehabt. Heute leben Sie in England, haben jedoch auch schon einige Zeit in Malaysia verbracht. Können Sie uns einen kleinen Überblick über diese Abschnitte Ihres Lebens geben?

1993 habe ich in meinem Beruf als Chemieingenieurin im Anlagenbau in Deutschland begonnen. Diese Tätigkeit hatte schon früh eine internationale Ausrichtung. Die Arbeit setzte sich aus deutschsprachigen und englischsprachigen Arbeitsgebieten zusammen.
Im Rahmen meiner Tätigkeit für das Bundesausfuhramt/Wirtschaftsministerium war ich ein Mitglied eines Begleitteams von internationalen Inspektoren, die Diplomatenstatus hatten, und die BRD für die Einhaltung des Chemiewaffenübereinkommens (Verbot von Chemiewaffen) inspizieren. Die Inspektionen fanden in Deutschland statt, aber die Tätigkeit hatte eine sehr internationale Ausrichtung.
Es zog mich dann aber doch wieder in die chemische Industrie, da mir die politische Ausrichtung nicht so sehr gefiel und mir eine größere Einbindung in alltägliche technische Fragestellungen fehlte.
In 2003 ging ich für sieben Monate nach Malaysia und anschließend zwölf Monate nach China, um mit einem Team worldscale sized Chemieanlagen in der Nähe von Shanghai zu bauen.
In China habe ich meinen englischen Mann kennengelernt. Wir sind 2006, nachdem wir aus Asien zurückkamen, nach England gezogen. In England habe ich dann weiter im Chemieanlagenbau gearbeitet. Das Gute an dem Beruf ist, dass die Qualifikation, nach Übergangsphasen der nationalen Anerkennung, gut international einsetzbar ist.

Viele junge Leute wünschen sich, nachdem sie ihren Schulabschluss haben, zu reisen und die Welt besser kennenzulernen. In Ihrer Zeit in Malaysia haben Sie die dortige Kultur miterlebt, nicht nur bezüglich der Arbeit. Würden Sie unserer Generation empfehlen, unabhängig von der späteren Berufung, die Arbeitskultur anderer Länder kennenzulernen, um so Erfahrungen zu sammeln? Welche Erfahrungen haben Sie von dort mitgenommen?

Ich kann das auf jeden Fall empfehlen, falls das finanziell möglich und sicher ist.
Abgesehen davon, dass man eine gute Zeit verbringen kann, auf die man noch lange zurückschauen kann, ist das ein sehr guter Zeitpunkt, um andere Arbeitskulturen kennenzulernen. Oftmals ist es zu einem späteren Zeitpunkt, wenn man im Berufsleben steht und/oder Familie hat, unter Umständen nur schwer möglich.
Ein Auslandsaufenthalt fördert die Offenheit für andere Kulturen, Religionen und andere Lebens- und Arbeitsweisen. Weiterhin erweitert ein Auslandsaufenthalt den Blick auf die historischen, politischen, ökologischen und kulturellen Zusammenhänge im eigenen Land sowie international. Wie vorher schon genannt arbeiten Organisationen zunehmend globaler und in immer vernetzteren Strukturen. Dabei hilft es, diese Zusammenhänge zu verstehen, und das wird zunehmend wichtiger.
Ich habe mich viel mit den interkulturellen und religiösen Unterschieden in meiner Zeit in Malaysia, China, kurzzeitig in Tokyo, aber auch und insbesondere während meiner Zeit in Großbritannien auseinandergesetzt, oder als Deutsche auseinandersetzen müssen. Ich habe dabei große interkulturelle Unterschiede beobachtet und erlebt. Ich habe durch meine Auslandsaufenthalte viele Anregungen erhalten und viel Spannendes erlebt. Es hilft mir, die Dinge auch mal anders zu betrachten oder zu bearbeiten. Und es hilft natürlich sehr für die Sprachkenntnisse.

Ist Ihnen durch Ihre Arbeit in anderen Ländern und mit internationalen Konzernen ein Unterschied hinsichtlich der Frauen- und Männerquote aufgefallen? Haben Sie eine andere Verhaltensweise gegenüber Frauen wahrgenommen?

Nein, mir sind keine gravierenden Unterschiede aufgefallen. Nicht in den Ländern, in denen ich bin oder war. Der Anteil an Frauen in den Bereichen, in denen ich tätig war, war überall noch eher gering. Aber hier vollzieht sich ein Änderungsprozess.


Was würden Sie Frauen und Mädchen, die dieses Interview lesen, mit auf den Weg geben?

Wenn man ein großes Interesse an MINT-Zusammenhängen hat, sollte einen nichts davon abhalten, diesen Weg einzuschlagen. Es gibt sehr spannende, relevante Aufgaben- und Themengebiete, die die Welt beschäftigen, und in denen man sich beruflich einbringen kann. Dieser Weg ist eine gute Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, mit guten Jobaussichten.
Jungen, gut qualifizierten Frauen stehen die Türen offen und sie werden mehr und mehr durch Onboarding-/ Networking- und Mentorenprogramme unterstützt. Unternehmen haben ein großes Interesse an gemischten Teams.
Abgesehen von einigen kleinen, wenigen Ausnahmen, sehe ich keine Beeinträchtigung, weshalb Frauen nicht in MINT-Berufsfeldern erfolgreich und glücklich tätig sein können.
Ich wünsche allen alles Gute beim Finden eines passenden, und spannenden Lebensweges!

Wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Gespräch, Frau Rühmann!