Frau Bergmann, Sie haben Mathematik studiert und arbeiten jetzt in einem MINT-Beruf. Welchen Beruf üben Sie aus?
Ich bin Teamleiterin bei einem Ingenieursdienstleister im Bereich Automotive. Gestartet habe ich im Bereich Softwaretest, das war für mich naheliegend, da ich im Nebenfach Informatik hatte und somit schon ein paar anwendbare Grundlagen mitbrachte. Schnell habe ich gelernt, in einem männerdominierten Umfeld meine Stärken auszuspielen. Meine strukturierte Arbeits- und Denkweise sowie meine Kommunikationsstärke haben mir geholfen, die Leitung des Projektteams zu übernehmen. Obwohl die Kollegen fachlich viel stärker waren als ich, gelang es mir, die Aufgaben im Team zu verteilen und mit dem Kunden abzustimmen, die Ergebnisse zurückzuliefern und die Wirtschaftlichkeit des Projekts sicherzustellen.
Was genau macht man als Softwareentwicklerin und Softwaretesterin? Können Sie uns typische Aufgaben beschreiben?
In der Automotive Branche ist die eigentliche Entwicklung der Steuergeräte (sowohl Software als auch Hardware) ausgelagert. Typische Aufgaben in unseren Projekten kann ich so beschreiben:
Im Auftrag des OEMs (Anmerk.: OEM = hier: Automobilhersteller) und in enger Zusammenarbeit mit dem OEM denken wir, also unsere Projektteams, uns eine neue Funktion aus, die wir dem Endkunden anbieten wollen.
Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus meinen ersten Tagen: Der Fahrer möchte sein Smartphone mit dem Auto verbinden, um über sein Audiosystem im Fahrzeug seine Lieblingsmusik direkt vom Handy abzuspielen.
Hört sich erstmal simpel an, trotzdem sind viele Details notwendig, damit die verschiedenen Software-Bausteine zusammenarbeiten. Diese Details werden nun in einem sogenannten Lastenheft oder einer Anforderungsspezifikation beschrieben. Diese werden dann mit den Entwicklern ausgehandelt, detailliert und implementiert. Und dann kommt die Funktion im Fahrzeug zum Einsatz.
Die typische Aufgabe einer Softwaretesterin ist, sich die Funktion nun genau anzusehen. Und immer und immer wieder dieselben Schritte durchzuspielen, sie ein klein wenig abzuwandeln und so zu prüfen, ob Fehler auftreten.
In unserem Beispiel sieht das dann ungefähr so aus: Ich setze mich ins Auto, verbinde mein eigenes Handy mit dem Auto, wähle in der Menüführung des Autos meine Musik und höre sie an. Ich versuche lauter und leiser zu drehen, den Titel zu wechseln etc. Dann wandle ich das Ganze ein klein wenig ab und verändere die Lautstärke oder wechsele den Titel am Handy selbst etc.
Das Ganze mache ich dann natürlich noch mit verschiedenen anderen Smartphone-Modellen. Und für zahlreiche weitere Use Cases. Ziel ist es herauszufinden, ob es Probleme bzw. Fehler gibt.
Welche Kompetenzen braucht man, um diese Tätigkeit auszuüben? Gibt es hierbei auch „typisch weibliche“ Fähigkeiten, die besonders wertvoll sind?
In unseren Projekten sind die wichtigsten Eigenschaften:
Kommunikationsstärke, d.h. ich bin in der Lage Aufgaben aufzunehmen, umzusetzen und Ergebnisse zurückzuliefern, ich kann meine Ergebnisse bzw. Probleme oder Einschränkungen klar und sachlich darstellen und nicht zu vergessen: Ich habe auch eine Wahrnehmung dafür, ob mein Gegenüber verstanden hat. Des Weiteren ist diese Kommunikation mit den verschiedensten Persönlichkeiten, Nationalitäten und Personen mit unterschiedlichsten fachlichen Voraussetzungen zu führen. Auch hier gerne wieder ein Beispiel. Ein Software-Entwickler wird mir eine Anforderung oder Aufgabe wahrscheinlich sehr technisch beschreiben, mit vielen Fachbegriffen und Details. Wenn ich diese Aufgabe dann zu einem Manager tragen und diesem erklären muss, was zu tun ist, dann werde ich sie „übersetzen“ müssen. Der Manager hat vielleicht mehr Interesse an den wirtschaftlichen Auswirkungen: Was kostet die Umsetzung und was kostet es, wenn wir die Aufgabe nicht umsetzen?
Proaktivität, also die Lust anzupacken, Aufgaben zu sehen und umzusetzen, ohne dass mir jemand die Aufgabe zuteilt oder mir eine detaillierte Anleitung gibt, wie etwas zu lösen ist. Sich selbst anzubieten für zusätzliche Themen und auch wenn ein Kollege zu viel zu tun oder Schwierigkeiten hat. Gleichzeitig aber auch zu melden, wenn man nicht genug zu tun hat oder selbst bei der Lösung einer Aufgabe nicht weiterkommt. Oder auch einfach mal eine Idee auszuarbeiten und vorzustellen, auch mit dem Risiko, dass die eigene Idee dann nicht weiterverfolgt wird. Zu erkennen, was als nächstes kommt.
Vielen Mädchen fehlen Vorbilder in MINT-Berufen – ein Grund für uns, dieses Thema in unserem Seminarkurs zu wählen und Frauen in MINT-Berufen zu interviewen. Gab es für Sie eine Person, die Sie inspiriert hat, in dieses Berufsfeld einzusteigen oder es überhaupt in Betracht zu ziehen? Oder gab es jemanden, der oder die Sie besonders ermutigt hat?
Mein großes Vorbild war und ist mein Vater. Mein Hauptantrieb, in ein technisches Berufsfeld einzusteigen, waren die Annehmlichkeiten, die ich als Kind dadurch erlebt habe, dass es in dem Ingenieursberuf meines Vaters immer schon Gleitzeit und maximale Flexibilität gab und er so, anders als viele andere Väter, sehr oft nachmittags Zeit für uns hatte. Das wollte ich auch erreichen: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gleichzeitig natürlich auch die gute Bezahlung.
Mädchen spielen mit Barbies, Jungs mit Technikbaukästen – so das Klischee. Haben Sie sich in der Kindheit schon für MINT-Themen interessiert? Wann haben Sie Ihr Interesse für diese Themen entdeckt?
Ich war und bin ein typisches Mädchen, ich habe immer Mami, Puppen und Barbie gespielt, wäre am liebsten eine Prinzessin. Meine größte Leidenschaft in meiner Kindheit war Lesen. Ich würde nicht sagen, dass ich mich für MINT-Themen interessiert habe. Mir gingen die MINT-Fächer in der Schule leicht von der Hand, daher habe ich diese Fächer gezielt für mein Abitur und auch mein Studium gewählt.
Welche MINT-Fächer hatten Sie in der Schule und wie wichtig waren diese für Ihren weiteren Lebensweg?
Ganz klassisch hatte ich alles ein bisschen, Chemie, Physik und Mathe. Damals ging es langsam los mit Informatik als Unterrichtsfach. Ausgebildete Lehrkräfte gab es da noch nicht, eher solche, die versucht haben, ihr Hobby an uns Schüler zu vermitteln.
Für mich ist es schon immer wichtig gewesen, dass es ein „Richtig“ und ein „Falsch“ gibt. Das findet sich leichter in MINT-Fächern als in Sozial-, Wirtschafts- oder Geisteswissenschaften. Ich glaube, es ist eher so, dass ich mich nicht für MINT, sondern gegen Auslegung und Interpretation entschieden habe.
In unserer Schule zeigt sich, außer in Biologie, ein deutlicher Jungsüberschuss in den MINT-Fächern, auch in den Leistungskursen – und dass, obwohl wir ein MINT-orientiertes Gymnasium sind. Wie war das bei Ihnen damals?
Wir waren ein sehr kleiner Abiturjahrgang, mit mir haben nur ca. 20 Kinder Abitur gemacht. Daher hatten wir nicht sehr viel Wahlmöglichkeit. Es gab Mathe und Physik, Englisch, Deutsch und Sport als Leistungskurse. Bis auf in Physik waren die Kurse gemischt. Physik haben nur Jungs gewählt, wir Mädels mochten den Lehrer nicht…
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass so wenige Mädchen sich für den MINT-Weg entscheiden? Was kann aus Ihrer Sicht getan werden, um mehr Mädchen dazu zu bewegen, sich für MINT-Fächer zu interessieren? Welche Rolle spielen die Lehrkräfte dabei?
Aus meiner Perspektive ist das tief in unserer Gesellschaft verankert. Es liegt stark an den eingefahrenen Strukturen. Meine Tochter z.B. kam schon in der ersten Klasse nach Hause und jammerte, sie sei schlecht in Mathe. Sie hatte von den Mitschülerinnen aufgeschnappt, dass Mädchen schlecht in Mathe seien. Daraufhin habe ich sie gefragt, was Mathe denn sei. Sie wusste es nicht. Als ich erklärt habe, dass Rechnen und Logik, genauso wie räumliche Vorstellung (also für sie z.B. „nach Hause finden, sich Wege merken“) dazu gehören, meinte sie, dass sie das ja eigentlich gut könne.
Gerade in der Schule hängt es auch viel an den Lehrkräften. Ich hatte lange nur männliche Mathe-Lehrer, das war ein „Friss oder Stirb“, entweder du kapierst es oder nicht. Ich behaupte, das schreckt Mädchen schneller ab als Jungs. Als wir im Leistungskurs eine Lehrerin bekamen, zeigte sich plötzlich, dass es auch eine andere Art gibt, mit dem Thema umzugehen.
Wie ging es nach Ihrer Schulzeit weiter? Wann und wie haben Sie das Mathematikstudium für sich entdeckt?
Einige Unis bieten Schnupper-Tage an, dort habe ich an unterschiedlichen Unis an Vorlesungen zu Informatik, Chemie und Mathematik teilgenommen. Die Entscheidung fiel auf Mathematik, weil ich mir damit für die Berufswahl alle Möglichkeiten offengelassen habe.
Mir persönlich macht Mathe Spaß. Ich löse gerne Aufgaben und stelle gerne Formeln um. Ich weiß trotzdem nicht, was ich aus dieser Neigung machen kann. Können Sie mir Perspektiven eröffnen oder Beispiele geben? Was haben z.B. Ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen nach dem Studium für Wege eingeschlagen?
Das Mathe-Studium bringt dir kein spezifisches Know-How wie ein Ingenieursstudium. Wenig des Erlernten ist in der freien Wirtschaft anwendbar. Was du lernst, ist, komplexe Zusammenhänge zu erfassen, mit großen Mengen Input umzugehen und den Kern einer Situation herauszuarbeiten. Methodiken und Logik sind die wichtigsten Bausteine, die ich für mich mitgenommen habe.
Die Berufe, die meine Freunde und Kommilitonen eingeschlagen haben, sind super unterschiedlich. Ich nenne Beispiele:
- Leitender Entwickler im Bereich Big Data für Tunnelbohrmaschinen
- Abteilungsleiterin für Prozesse und Methoden bei einem Roboter-Hersteller
- Forscherin in der Luftfahrt
- Functional Safety Consultant
- Steuerberaterin
- Softwareentwickler
- Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Zahnmedizin
- und natürlich Mathelehrer 😉
Was genau lernt man eigentlich im Mathematikstudium, werden auch andere MINT-Bereiche gelehrt? Man stellt sich ein Mathestudium ja oft sehr trocken und schwierig vor.
Mein Jahrgang war der erste an meiner Universität, der das Punktesystem eingeführt hat. Ich habe auch noch ein Diplom. Das ist alles lange her, ich denke, der Studiengang hat sich seitdem sehr verändert.
Die verschiedenen Felder, die gelehrt werden, sind Analysis (die Theorie der Zahlen), Algebra (Theorie der Rechenoperationen), Geometrie (Zahlenräume), Stochastik (Wahrscheinlichkeitsrechnung). Dies sind die Grundlagen, um die Welt in mathematischen Gleichungen auszudrücken, also (in meinen Augen) die Basis für alle anderen Wissenschaften.
Dabei bleibt die Mathematik theoretisch, die Verbindung zu ihren Anwendungsfeldern wird nicht hergestellt, somit auch kein Bezug zu anderen MINT-Fächern.
Nur knapp 30% der Studierenden in MINT-Studiengängen sind weiblich . Wie haben Sie das in Ihrem Studium wahrgenommen?
Die Mathematik ist kein typisches MINT-Fach. Eigentlich ist sie eine Geisteswissenschaft. In meinem Studiengang waren ca. 60% Frauen. Die Männer haben sich für die Anwendungsfächer (Physik, Informatik etc.) entschieden. Da gab es kaum Frauen…
Wie war es, als Frau Mathematik zu studieren, welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Gab es Vor- oder Nachteile den männlichen Kommilitonen gegenüber? Hatten Sie den Eindruck, gleichberechtigt zu sein?
Ich muss zugeben, bisher habe ich mir nie viele Gedanken gemacht, ob ich gleichberechtigt bin. Ich habe schon immer gesagt, was ich will und mich dann meist auch durchgesetzt. Ich habe auch nie großartig einen Unterschied zwischen mir und meinen Kommilitonen wahrgenommen. Unsere Matheprofessoren wirkten auf mich alle weltfremd und nicht gerade kontaktfreudig, da hatten Jungs und Mädels gleichermaßen Zugangsschwierigkeiten.
Wie viele Frauen und wie viele Männer arbeiten in Ihrer Firma? Gibt es einen deutlich erkennbaren Unterschied?
Laut unseren Auswertungen sind wir bei ca. 30%-Frauenanteil. Allerdings inklusive unserer Zentralbereiche (Personal, Verwaltung etc.), die ja klassisch fast ausschließlich mit Frauen besetzt sind.
Wir haben gehört, dass es in Ihrem Unternehmen ein Frauen-Netzwerk gibt. Können Sie uns mehr dazu erzählen?
Sehr spannendes Thema, ich bin ins Gründerteam des Netzwerks gegangen, da unsere beiden Geschäftsführer (beide weiß, Ende 50 und natürlich Männer) nicht gerade positiv durch ihre Art, zu kommunizieren und gendersensibel aufzutreten, aufgefallen sind. So ist bei einigen Frauen in der Firma das Bedürfnis entstanden, sich besser zu vernetzen, sich auszutauschen und sich gegenseitig den Rücken zu stärken und wir haben das Netzwerk gegründet. Die Kolleginnen sind alle mit verschiedensten Themen dabei, es ist spannend zu hören, was sie bewegt.
Was würden Sie Frauen und Mädchen, die dieses Interview lesen, mit auf den Weg geben?
Wenn du das wählst, was dir Freude bereitet, wirst du gut darin sein. Habe den Mut, getroffene Entscheidungen auch in Frage zu stellen und deinen Weg anzupassen oder zu ändern.
Selbstreflektiert zu wissen, was du möchtest und selbstbewusst kundzutun, was du brauchst, erlaubt es auch deiner Umgebung, auf dich einzugehen und dich auf deinem Weg zu unterstützen.
Wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Gespräch, Frau Bergmann!