Frau Prof. Dr. Seiler, Sie sind Professorin für Physik an der FU Berlin und in einem Forschungsteam tätig. Sie untersuchen, wie elektronische Anregungen in Nanomaterialien auf Lichtanregung reagieren, zum Beispiel in einer Solarzelle. Können Sie uns als Laien verständlich näherbringen, was Ihr Fachgebiet ist und was Sie tun?
Ich möchte verstehen, wie die schnellsten Ereignisse der Natur ablaufen. Also zum Beispiel, wie eine chemische Reaktion funktioniert oder wie Elektronen in einer Solarzelle ihre überschüssige Energie in Wärme umwandeln. All diese Vorgänge laufen auf ultrakurzen Zeitskalen ab, die von 10-12 s bis 10-15 s reichen. Um diese Vorgänge in Echtzeit zu verfolgen, verwenden wir gepulste Laser als eine Art Kamera, um „Filme“ von den schnellsten Ereignissen zu machen.
Was ist das Ziel Ihrer Forschung, welche Erkenntnisse und Fortschritte werden angestrebt?
Unser Hauptziel ist es, die Natur auf einer grundlegenden Ebene besser zu verstehen. Aber natürlich hoffen wir, dass wir mit diesem grundlegenden Verständnis den Ingenieuren mitteilen können, wie sie die Materialien für verschiedene Anwendungen wie Solarzellen oder Beleuchtung verbessern können.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Sehr unterschiedlich von einem Tag auf den anderen! Das ist es, was ich an meiner Arbeit mag. An einem Tag unterrichte oder betreue ich Studenten, am nächsten bin ich im Labor, am nächsten in meinem Büro an meinem Computer und programmiere oder denke über Daten nach, am nächsten reise ich zu einer Konferenz usw. ... und natürlich hat man als Professorin leider auch einige Verwaltungsaufgaben zu erledigen!
Waren Sie schon immer ein Physikfan? Wie war das in Ihrer Kindheit und in der Schulzeit?
In der Schule mochte ich Physik immer, aber es war es nicht mein Lieblingsfach. Ich hatte mehr Spaß an Literatur und Geschichte!
Meine Eltern sind beide ausgebildete Wissenschaftler (keiner von ihnen hat diesen Weg allerdings weiterverfolgt), und das hat in meiner Kindheit offensichtlich eine große Rolle gespielt. Ich glaube, sie haben mich von klein auf ganz natürlich dazu erzogen, wie ein Wissenschaftler zu denken und kritisch zu sein, ohne bewusst darüber nachzudenken.
Muss man in der Schule überdurchschnittlich gut im Fach Physik sein, um dieses studieren zu können?
Nein, nicht unbedingt. Wenn man Physik studieren will, sollten die Noten wahrscheinlich nicht super schlecht sein (aber auch dann kann es Gründe für die schlechten Noten geben, die nicht darin liegen, dass der Schüler nicht gut ist). Wahrscheinlich ist es in diesem Stadium wichtiger, gut in Mathe zu sein, und man muss natürlich sehr neugierig auf die Natur sein.
Was oder wer hat Sie damals motiviert, Physik zu studieren?
Ich war unschlüssig zwischen Medizin, Geschichte und Physik. Schnell wurde klar, dass es um eine Entscheidung zwischen Physik und Geschichte ging. Ich unterhielt mich mit meiner Geschichtslehrerin, die mir riet, zuerst Physik zu machen und später Geschichte der Wissenschaften, wenn ich das noch wollte. Dann haben mich auch meine Eltern und mein Freund motiviert, Physik zu studieren. Ich glaube, ich habe mich damals auch für Physik entschieden, weil es mir offen und frei erschien. Ich konnte mir nicht vorstellen, ein Thema zu wählen, das in dieser Phase meines Lebens zu einem bestimmten Beruf führen würde (als Architekt oder sogar Ingenieur). Bis heute mag ich die Physik aus diesem Grund: Es ist ein Fach, in dem man „out of the box“ denken darf und soll.
Wie viele Frauen studierten in Ihrem Semester? Waren Sie als Frau eher die Exotin unter den Männern oder war das Geschlechterverhältnis relativ ausgewogen?
Ich habe in der Schweiz studiert, und wir waren eigentlich sehr wenige Frauen - ich glaube, so um die 10%. Während meines gesamten Studiums hatte ich auch nur eine einzige Professorin! Sie war eine Mathe-Professorin mit 4 Kindern...
Sie sind ja auch heute noch an der Uni tätig und haben daher einen guten Einblick in das Studium. Hat sich der Frauenanteil in den letzten Jahren verändert? Wenn ja, wie?
Ich habe erst vor kurzem an der FU (Anmerkung: Freie Universität Berlin) angefangen, daher kann ich Ihnen noch nichts Genaues darüber sagen. Aber generell gibt es viel mehr Frauen als früher, die sich für ein Physikstudium einschreiben.
Nach dem Studium haben Sie unterschiedliche Stationen durchlaufen, viele davon im Ausland. Bitte erzählen Sie uns davon. Was genau haben Sie dort gemacht?
Nach meinem Physikstudium war ich mir nicht sicher, ob ich einen Doktortitel anstrebte. Ich wechselte für eine Weile das Thema und arbeitete als diplomatische Praktikantin bei der Schweizer Botschaft in Peking. In China habe ich mich also gar nicht mit Physik beschäftigt. Dann haben mein Mann und ich beschlossen, dass wir doch einen Doktortitel machen wollen, und dass ein Auslandsaufenthalt vielleicht interessant und auf jeden Fall einfacher als später sein könnte. Wir haben uns für Kanada und Montreal entschieden, weil wir beide dort Stellen gefunden haben, die uns wirklich gefallen haben! Nach unserer Promotion beschlossen wir, unsere Karriere in Europa zu beginnen, um näher bei unseren Familien zu leben. Wir haben beide tolle Jobs in Berlin gefunden und sind dorthin gezogen. Nach einer Weile wurde eine Stelle an der FU frei, ich bewarb mich und bekam die Stelle. Dann wurden meine beiden Kinder hier geboren, und jetzt sind wir hier!
Sie kommen ursprünglich aus der französischen Schweiz, haben in Deutschland, Großbritannien, China und in Kanada gelebt. Sehen Sie Unterschiede zwischen den Ländern, was Frauen in MINT-Bereichen betrifft?
Es gibt mit Sicherheit Unterschiede! Aber es ist schwer für mich, wirklich zu vergleichen, weil ich in diesen Ländern in sehr unterschiedlichen Lebensabschnitten gelebt habe. Was ich sagen kann, ist, dass Berlin sehr freundlich ist, wenn es darum geht, Arbeit und Familienleben unter einen Hut zu bringen.
Welche Erfahrungen aus Ihrem bisherigen Lebensweg in der MINT-Branche waren für Sie besonders wertvoll?
Ich denke an all diese verschiedenen Orte und Kulturen, in denen ich gelebt habe. Aber so sehr mir das vor ein paar Jahren Energie und Ideen gegeben hat, jetzt bin ich eigentlich sehr glücklich damit, an einem Ort zu bleiben.
Warum haben Sie sich dann für die FU Berlin und für die Forschung und Lehre entschieden?
Ich habe mich für eine akademische Laufbahn entschieden, weil ich in mir gespürt habe, dass dies das Richtige für mich, die richtige Art von Beruf für mich ist. Auch wenn das bedeutet, dass ich beispielsweise nicht 2 km von meiner Familie entfernt wohnen kann, die in Lausanne geblieben ist!
Da mein Mann und ich keine Deutschen sind, wollten wir an einem internationalen Ort leben. Die FU schien also ziemlich ideal zu sein. Dann wurde die Stelle frei und ich bewarb mich, ohne lange nachzudenken, denn es war klar, dass dies genau die Art von Stelle war, die ich suchte.
In der Forschung ist man oft abhängig von Forschungsgeldern, die zur Verfügung gestellt werden. Ist das in Ihrem Bereich auch so und ist es dann nicht schwierig, die eigene Karriere zu planen?
Ja, Ihr habt völlig recht. In den Naturwissenschaften ist es nicht so schwer wie in anderen Disziplinen, da dort recht viele Fördermittel zur Verfügung stehen. Dennoch ist der Weg bis zur Professur recht ungewiss und kann lang sein. Besonders schwierig wird es, wenn junge Menschen ein gesichertes Einkommen haben wollen, etwa wenn sie eine Familie gründen wollen.
Gab es für Sie in Ihrem Lebensweg Stolpersteine, die Sie als Frau im MINT-Bereich überwinden mussten?
Bis ich Kinder hatte, würde ich nicht wirklich sagen … zumindest keine großen. Ich fühlte mich immer willkommen und ermutigt, eine Frau in der Physik zu sein. Jetzt, wo ich Kinder habe und Zeit mit ihnen verbringen möchte, kann es manchmal schwierig sein, alles unter einen Hut zu bringen. Beispielsweise kann es sein, dass ich um 16:00 Uhr ein wichtiges Meeting habe, meine Kinder aber um diese Zeit abgeholt werden müssen. Ich muss sagen, dass das FU-Umfeld sehr familienfreundlich ist, das macht es also möglich. Ohne ein unterstützendes Umfeld (und einen unterstützenden Mann!) wäre es meiner Meinung nach unmöglich, Familie und Professur miteinander zu vereinbaren.
Hat es im Studium oder jetzt im Job jemals eine Rolle gespielt, dass Sie weiblich sind? Wie war es, als Frau Physik zu studieren? Und wie ist es bislang im Job gewesen?
So wie ich es wahrgenommen habe, hat mein Geschlecht keine wirkliche Rolle gespielt, bis ich Kinder hatte. Als Studentin war ich sicherlich eine Minderheit, aber irgendwie hat mich das nicht so sehr gestört. Jetzt, wo ich auch Mutter bin, sehe ich schon Unterschiede. Ich arbeite weniger Stunden pro Woche als der durchschnittliche männliche Kollege in meiner Position. Ich habe gelernt, bei der Arbeit sehr effizient zu sein, damit ich mehr Zeit für meine Kinder habe. Das tägliche Leben ist nicht immer einfach, aber es macht auch viel Spaß und Freude. Ich liebe sowohl meine Familie als auch meinen Beruf.
Wenn Sie zurückblicken, würden Sie aus heutiger Sicht etwas anders machen?
Nein, nicht wirklich. Ich bin ziemlich zufrieden mit meinem Leben! Ich denke, man muss akzeptieren, dass nicht alles kontrolliert werden kann und dass man sich auch ein wenig vom Leben leiten lassen darf. Als ich 15-16 Jahre alt war, hätte ich mir zum Beispiel nie vorstellen können, dass wir langfristig in Berlin leben würden.
Was würden Sie Frauen und Mädchen, die dieses Interview lesen, mit auf den Weg geben?
Dass sie ihren Interessen folgen sollten, ohne zu denken, dass sie nicht gut genug sind oder dass diese oder jene Disziplin nichts für sie ist. Folgen Sie Ihrem Bauchgefühl!
Wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Gespräch, Frau Prof. Dr. Seiler!